Vom ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss stammt die Metapher, die abendländische Kultur sei von drei Hügeln zu uns herabgestiegen: Von der Akropolis, vom Kapitol und von Golgatha. Wenn es unter den europäischen Denkern einen gibt, dessen Geist auf jedem dieser Hügel heimisch war, dann Erik von Kuehnelt-Leddihn, ein umfassend gebildeter Gelehrter von enzyklopädischer Wissensfülle. Er war in zwölf Sprachen zu Hause – darunter auch Japanisch, Hebräisch und Arabisch – konnte in weiteren Idiomen lesen und hatte die Literatur der klassischen Antike im jeweiligen Original studiert.
Erik Maria Ritter von Kuehnelt-Leddihn, von einigen seiner Freunde liebevoll „der Ritter“ genannt, wurde am 31. Juli 1909 in Tobelbad in der österreichischen Steiermark geboren. Nach der Matura studierte er Rechtswissenschaft in Wien, Staats- und Volkswirtschaft an der Universität Budapest (mit Erwerb des Doktorgrades) und schließlich noch Theologie in Wien. Ab seinem 16. Lebensjahr war er journalistisch tätig und wurde mit 20 Jahren als Sonderkorrespondent einer ungarischen Tageszeitung nach Russland geschickt.
1933 erschien sein Roman „Jesuiten, Spießer, Bolschewiken“, dem im Laufe seines Lebens noch rund 30 weitere Bücher und Broschüren folgen sollten, einige davon unter Pseudonym publiziert und in mehrere Sprachen übersetzt. 1937 heiratete er Christiane Gräfin von Goess und zog im selben Jahr in die USA, um an der Georgetown University in Washington D.C. zu lehren. Während des Spanischen Bürgerkrieges reiste er als Journalist in die von den nationalspanischen Kräften gehaltenen Gebiete der iberischen Halbinsel. Danach kehrte er nach Amerika zurück, wo er der historischen Fakultät des St. Peter‘s College in Jersey City vorstand. Weitere Lehrtätigkeiten führten ihn zur Fordham University und zum Chestnut Hill College in Philadelphia.
1947 kehrte Kuehnelt-Leddihn mit seiner Frau und seiner Tochter Isabel nach Österreich und zu seinem Sohn Erik zurück und ließ sich in Lans, Tirol, nieder. Fortan arbeitete er als freier Schriftsteller und Gastreferent. Alljährlich, fast 50 Jahre lang, unternahm er Vortragsreisen quer durch die USA. Daneben schrieb er Beiträge für über 50 namhafte Zeitschriften in Europa und Übersee, so beispielsweise für das von Wilhelm F. Buckley Jr. herausgegebene Magazin National Review, ein Publikationsorgan der amerikanischen „Old Right“, und in Deutschland für Criticón, für Theologisches und den Rheinischen Merkur.
Erik von Kuehnelt-Leddihn nannte sich selbst einen „Weltreisenden in Semipermanenz“. Er bereiste – zu Vortrags- oder Studienzwecken – die meisten Länder der Erde, manchmal per Autostopp, wiederholt auch Krisenregionen wie Vietnam und Nordirland. Die Gräuel des Spanischen Bürgerkriegs kannte er aus eigener Anschauung. Seine Eindrücke hielt er als Hobby-Photograph und Hobby-Maler oft auf Zelluloid und in selbst gemalten Bildern fest.
Einiges an Kuehnelt-Leddihn erinnert an den englischen Historiker Lord Acton: Auch jener war umfassend gebildeter Privatgelehrter, in mehreren Sprachen bewandert und auf dem Boden eines festen katholischen Glaubens stehend. Friedrich August von Hayek hat in seinen Vorlesungen wiederholt auf die unschätzbare Bedeutung solcher Privatgelehrter für die Geistesgeschichte und für den Fortschritt des Wissens hingewiesen. Sind es doch nur solche von staatlichen und politischen Institutionen finanziell und ideologisch vollständig unabhängigen Köpfe, die es wagen können, dem jeweiligen Zeitgeist die Stirn zu bieten, und die nicht dem Zwang unterliegen „Wes‘ Brot ich ess, des‘ Lied ich sing“ oder sich unter Karriereaspekten verbiegen zu müssen.
Kuehnelt-Leddihn bezeichnete sich selbst als „katholischen rechtsradikalen Liberalen“ (Criticón Nr. 24). Hierbei darf man jedoch nicht dem linkspolitischen Taschenspielertrick verfallen, „rechts“ mit „nationalistisch“ gleichzusetzen (eine Übung, die ihre Wurzeln im bolschewistischen Sprachdiktat hat, den Nationalsozialismus ausschließlich mit dem Wort „Faschismus“ zu benennen, um von dessen sozialistischem Hauptkern abzulenken).
Dem „rechten“ Spektrum der Weltanschauungen rechnet Kuehnelt-Leddihn zu: Spiritualität, freien Willen und Verantwortlichkeit, Föderalismus, Patriotismus und freie Wirtschaft – kurz: Freiheitlicher Antitotalitarismus. Das „linke“ Spektrum sieht er manifestiert im Materialismus, Determinismus, Zentralismus, Etatismus, Sozialismus, Nationalismus und Rassismus. In Links und Rechts erkennt er echte Gegensätze, die sich deshalb nie berühren. (Es gibt kein „dazwischen“). „Die Linke“, schreibt er in seinem Hauptwerk „Gleichheit oder Freiheit?“, „wurzelt in der Französischen Revolution mit ihren nationalistischen und internationalistischen Epigonen, die Rechte in den Traditionen des christlichen und vorchristlichen Ostens.“ (S. 359)
Man muss im vorliegenden Buch das Kapitel „Pathologie der Französischen Revolution“ gelesen haben, um die tiefe Abscheu zu verstehen, die der Autor vor diesem Ereignis hat, bei dem rote und braune, nationale und internationale Sozialisten ihre perversen Phantasien austobten und das letztlich in gigantische sadistische Sex- und Abschlachtorgien ausartete. Sogar ein Genozid an den Elsässern war geplant und wurde nur durch den Sturz Robespierres verhindert. Ab und mit der Französischen Revolution sind die politisch-weltanschaulichen Weichen falsch gestellt worden.
Die fausses ideés claires, die klaren aber falschen Ideen, die den Massen (aber auch den meisten Intellektuellen) viel leichter eingehen als die komplexen und diffizilen Strukturen der Wahrheit – und bei diesen falschen Ideen besonders der Wahn von der Gleichheit – mussten mit geradezu teuflischer Konsequenz dazu führen, dass der Französischen Revolution die russische und die deutsche Revolution folgten, also der Sowjetkommunismus und der Nationalsozialismus. Bei allen dreien gab es Konzentrationslager, in welchen die vermeintlich oder faktisch „Ungleichen“ vernichtet oder „gleichgeschaltet“ wurden. Der Herdeninstinkt des Mobs und der Machtrausch seiner fanatischen „Führer“ dulden keine Ungleichheit, weder des Standes noch der Gesinnung, weder der Religion noch der Bildung, weder der Klasse noch der Rasse, weder des Könnens noch des Habens.
Dass die Demokratie, „die mit dem Schierlingsbecher (der staatlich angeordneten Ermordung) des Sokrates moralisch untergegangen war“, in der Französischen Revolution „in einem Wald von Guillotinen romantisch wiedergeboren wurde“, machte diese Staatsform für Kuehnelt-Leddihn nicht sympathischer. Mit ihrer aller Natur – und besonders der Natur des Menschen – zuwiderlaufenden Gleichheitsarithmetik muss es in der Demokratie sukzessive und zwangsläufig zu einer Hinwendung zum Sozialismus kommen, von der politischen zur materiell-finanziellen Gleichheit. Der Sozialismus ist nun mal eine fausse idée claire, und auch für Ideen gilt, wenn man sie der Allgemeinheit vorsetzt, ein Gresham-Gesetz: die einfachen schlechten setzen die komplizierten guten ausser Kurs. Verstärkend kommt die Wirkung des niedrigsten menschlichen Instinktes hinzu: des Neides.
Auch eine „christliche Demokratie“ (s. Kapitel 4) kann es nicht geben, denn weder die Gleichheit noch die Herrschaft der Mehrheit sind christliche Postulate. Außerdem ist die Demokratie eine Art Diesseitsreligion antichristlichen Charakters. Da kein einziger ihrer Lehrsätze eine wissenschaftliche Grundlage hat, muss sie fortschreitend zu einer Religion werden, zu einem blinden weltlichen Glauben. Auch die auf Gleichheit gerichtete „Sozialromantik“ der Demokratie hat nur dem Schein nach mit christlichem Impetus zu tun. „Die ‚soziale Gerechtigkeit‘“, schreibt Kuehnelt-Leddihn, „kühl analysiert und demaskiert, zeigt uns nicht das reizende Antlitz der christlichen Nächstenliebe, sondern das Medusengesicht des totalitären Staates. In ihm regiert der Neid, die Faulheit, die kurzsichtige Bequemlichkeit, die Verantwortungslosigkeit, das ökonomische Nichtwissen und die Abdankung der Person.“ (S. 73) Was in unserem Zeitalter droht, ist „der Mensch als verstaatlichtes Säugetier“. (S. 74)
Umso mehr bleibt die wahre Religion, das Christentum, eine Existenzfrage. Nicht vergessen sollte man, dass die drei großen Revolutionen auch antichristliche Revolutionen waren. Nur die Religion gibt menschenwürdige Antworten auf die Fragen des Woher, des Wohin, des Wie und des Warum, nicht die großen Führer der Massenverhetzung und Massenverführung, und nicht die Selbstverwirklichungs-Manie der Gottlosen.
Wenn – wie im allgegenwärtigen Rechtspositivismus nicht nur der Diktaturen, sondern auch der Demokratien üblich – alles als Recht und „recht“ (richtig, gerecht) gilt, was als Gesetz auf dem jeweils legalen Weg erlassen wird, dann reicht auch das Naturrecht nicht mehr zur Verteidigung einer wahren Ethik aus. Wer meint, so Kuehnelt-Leddihn, dem weltlichen Gesetz erfolgreich Widerstand leisten zu können und nicht zugleich an das göttliche Gesetz glaubt, bedroht letztlich die gesellschaftliche Ordnung in ihren Grundfesten. Denn dann artet dieser Widerstand zum Terror aus und beschwört damit den Polizeistaat herauf. Nur der religiöse Mensch – und das ist im Abendland der Christ – wird sich nicht einer Ideologie unterwerfen, die das Paradies auf Erden verspricht und deshalb stets mit „störenden Feindbildern“ operiert.
Das Dahinschwinden des vielfach nur noch als Folklore betriebenen Christentums mag in krisenlosen Perioden noch nicht zur ernsten Gefahr werden, in Notzeiten aber wird sich zeigen, dass die Stärke oder Schwäche der Kraft des theistischen Glaubens zu einer Frage auf Leben und Tod wird. Hinsichtlich der Verhaltenskodizes leben viele Menschen derzeit noch vom „Geruch einer leeren Flasche“, das heißt, dass die Verhaltensänderung mit einem „time lag“ den nachlassenden christlichen Glaubensüberzeugungen folgt. Die „Vertierung“ breitet sich in totalitären Tyranneien besonders rasch aus, aber auch in liberal regierten Völkern zeigt sie sich in Form einer rapide sinkenden Sittlichkeit und einer rasant zunehmenden Kriminalisierung. „Religion“, so Kuehnelt-Leddihn, ist und bleibt „bitter notwendig“.
Erik von Kuehnelt-Leddihn wird oft als „Monarchist“ bezeichnet. Das ist nicht zutreffend. In seinem Werk „Gleichheit oder Freiheit?“ hat er klargestellt, dass mit dem Glauben an eine „alleinseligmachende Regierung“ alles Unheil anfängt und dass er schon deshalb von einem „Monarchismus“, der dem „krankhaften Republikanismus unserer Tage entgegengesetzt werden soll“, nichts wissen will. (S. 359) Stattdessen sieht er den Ausweg in einer „gemischten Regierungsform“, einer freiheitlich konstitutionellen Ständemonarchie, in welcher die politischen Parteien keine Rolle mehr spielen und durch Stände-Parlamente ersetzt werden. Im vorliegenden Buch kann man zwar mit der (dem 17. Kapitel angehängten) Portland Declaration einen leichten Abglanz der Kuehnelt-Leddihnschen Idealvorstellung von einer Staatsform der Freiheit erhaschen, für eine ausführliche und detaillierte Darstellung derselben muss man jedoch auf „Gleichheit oder Freiheit?“ zurückgreifen.
Dem (Erb-) Monarchen und seinem Kronrat weist er jedoch eine relativ starke Rolle zu und sieht darin die Hoffnung auf einen Minimalstaat. Anschaulich wird das in seinem Beispiel vom Zusammentreffen von Theodor Roosevelt mit Kaiser Franz Joseph. Als Roosevelt den Kaiser fragte, was er denn in diesem fortschrittlichen 20. Jahrhundert als seine wichtigste Aufgabe betrachte, antwortete der Monarch: „Meine Völker vor ihren Regierungen zu beschützen.“ Die Demokratie kann diesem Ideal jedenfalls niemals gerecht werden. Sie kann die scheinbare Divergenz zwischen Freiheit und Sicherheit nicht aushalten. Wenn die Massen zwischen Freiheit und der Illusion einer staatlich gewährten wirtschaftlichen Sicherheit wählen können oder müssen, werden sie immer dem Irrlicht der vermeintlichen Sicherheit nachlaufen und werden damit zum Opfer Leviathans. Angst und ihre Schwester, das Streben nach Sicherheit, bilden die Wirkkraft der Tyrannis. „Die Demokratie“, schreibt Kuehnelt-Leddihn, „ist eine ,Schönwetterstaatsform’, und man denkt mit Entsetzen daran, was politisch wohl in einer ganz großen Wirtschaftskrise kommen könnte.“ (S. 205) In der derzeitigen Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise gewinnen solche Worte eine gespenstige Aktualität.
Den „Rechten“ (das sind, um es zu wiederholen, bei Kuehnelt-Leddihn alle nicht-linken freiheitlichen Antitotalitären) wirft der Autor vor, es versäumt zu haben, der Menschheit eine überzeugende Ideologie zu geben, die Weichen also recht zu stellen. Er hält es für falsch, zu glauben, Ideologien seien „naturgemäß“ links, und Konservative und Liberale sollten deshalb ideologiefeindlich sein und keiner Ideologie bedürfen. Das sei brandgefährlich, denn „durch den Schleim, den uns die ,Männer der Mitte’ bringen wollen, wird der Feind mühelos seinen Weg bahnen. Wir müssen deshalb wieder Zeugen einer Überzeugung werden. Und gerade dafür brauchen wir eine Ideologie, … eine Ideologie der Personbejahung und der Liebe, die sich den Ideologien der Gruppenhysterie, der Rassen- und Klassenfeindschaft und des organisierten Hasses entgegenstellen könnte.“ (S. 184f)
Gestorben ist Erik von Kuehnelt-Leddihn am 26. Mai 1999 in seinem 90. Lebensjahr. Viele Konservative und die meisten Liberalen und Libertären tun sich schwer mit einer so kantigen Figur. Er war eben, wie Ernst Jünger ihn bezeichnet hat, eine „einsame Stechpalme“ und ein „Solitär“. Fest steht, dass sowohl Konservative als auch Liberale unendlich viel von ihm lernen können. Die Gedanken dieses Aristokraten von Herkunft, Geist, Gesinnung, Charakter und Tat gehören in ihrer Tiefe und Fülle zu den wertvollsten Pretiosen in der Schatztruhe der Geistesgeschichte des Abendlandes.
Vorwort Roland Baaders im Neudruck des Buches von Erik von Kuehnelt-Leddihn mit dem ursprünglichen Titel „Die recht gestellten Weichen – Irrwege, Abwege, Auswege“ (1989). Titel der Neuauflage von 2010: „Konservative Weltsicht als Chance – Entlarvung von Mythen und Klischees“ (MM-Verlag, Aachen). S. 9-15.